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Aufbruch

Von lärmenden Benzin-Kühen und fauchenden Ungetümen

Die ersten Automobile tauchten im ausgehenden 19. Jahrhundert auf den Strassen auf. Sie sahen aus wie Kutschen, hatten weder Dach noch Scheinwerfer und galten als Spielzeuge der Reichen. Der technikbegeisterte und fortschrittsgläubige Fotograf Jean Kölla (1860-1929) besass in Thun das erste Auto. Am 8. Juli 1896 berichtete das «Thuner Geschäftsblatt»: «Seit Sonntag schwirrt in den Strassen Thuns eine Hrn. Photograph Kölla gehörende Benzin-Motor-Kutsche herum, die grosse Bewunderung beim Publikum erregt. Das elegante Fuhrwerk hat zwar nur Platz für zwei Personen, rast aber mit denselben mit unheimlicher Geschwindigkeit davon. Kaltes Blut, eine sichere Hand zur Führung und Kenntnis des Motors sind jedenfalls für den Lenker notwendig».

Als Verkehrsmittel waren die motorisierten Strassenfahrzeuge aber noch lange nicht akzeptiert. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung stand dem Automobil ablehnend gegenüber; es kann sogar von einer eigentlichen Automobilfeindschaft gesprochen werden. Der Widerstand hatte verschiedene Ursachen: Man beklagte sich über den Staub, den die Autos aufwirbelten, und störte sich an deren Lärm. In Leserbriefen wurden die Fahrzeuge als fauchende Ungetüme bezeichnet und im «Geschäftsblatt» vom 1. August 1912 konnte man lesen, dass wieder eine «Benzin-Kuh» die Abend- und Morgenruhe störe. Der Lärm wurde gar mit dem zehnfach verstärkten Gebrüll einer geblähten Kuh verglichen und der Schreiber bat die Polizeiorgane, «diesem Tonkünstler das Maul zu stopfen». 

Bald vermeldeten die Thuner Zeitungen erste durch Autos verursachte Unfälle. So berichtete der Tägliche Anzeiger am 6. November 1902, dass ein Einspännerfuhrwerk beim Lauitor kurze Zeit ohne Aufsicht gestanden sei, als sich ein Auto von Hofstetten her genähert habe, «Durch das Gerassel desselben scheute das Pferd, ein Rappe mit Feuer, nahm Reissaus und sprang bei Herrn Schallenberger, Coiffeur in die Montre (Schaufenster), ohne indessen weiteren Schaden zu nehmen. Allerdings wurden drei Schaufensterscheiben zertrümmert. Die Unfälle bildeten denn auch den wichtigsten Kritikpunkt an den Autos. Der «Tägliche Anzeiger» forderte schon 1901, dass für die ganze Stadt die Temporegel «im Schritt» gelten sollte und die Autos mit Nummern zu versehen seien, um die Lenker zu identifizieren.

Grössere Autofahrten kündigte die Polizeikommission im Voraus an, damit die Bevölkerung vorsichtig war und keine Kinder unbeaufsichtigt auf der Strasse spielten. Trotzdem häuften sich die Unfallmeldungen in der Zeitung. Im Lauf der nächsten Jahrzehnte eroberte das Auto die Strasse und beschnitt die bisherige Freiheit der Menschen im Strassenraum immer stärker. Der motorisierte Verkehr drängte die Fussgängerinnen und Fussgänger, die Velofahrerinnen und -fahrer und die spielenden Kinder an den Rand, und ihr Verhalten wurde ab den 1930er-Jahren zunehmend durch Reglementierungen und Massnahmen zur Verkehrserziehung eingeschränkt. Dadurch büsste die Strasse ihre Funktion als Lebensraum ein und wurde zum reinen Transitraum. 

Andrea Bühler, Thuner Stadtgeschichte 1798-2018, Weberverlag.ch

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Technische Neuheit: elektrische Bogenlampen

«Splendides Licht» - mit diesen Lobesworten begrüsste anno 1896 die Thuner Lokalpresse eine technische Neuheit, die damals in Thun Einzug hielt: elektrische Bogenlampen als effiziente Beleuchtung für Gassen, Strassen und Plätze. Die Kohlenbogenlampe hat ihren Namen nicht von der gebogenen Form des Kandelabers (der Jugendstil lässt grüssen), sondern vielmehr von einem Lichtbogen, welcher durch eine elektrische Entladung entsteht. Bei der Kohlenbogenlampe bestehen die Elektroden aus Kohlenstücken, welche durch die hohe Temperatur, die an den Ansatzstellen herrscht, abbrennen. Deshalb müssen die Kohlenstücke von Hand oder automatisch nachgestellt werden.

1896 begann die Stadt Thun mit der Montage von elektrischen Bogenlampen, welche allmählich die Gasbeleuchtung verdrängten. Ermöglicht wurde das Installieren der Kohlenbogenlampen durch die Inbetriebnahme des städtischen Elektrizitätswerks, das den notwendigen Strom lieferte. Ende 1896 waren 41 Bogenlampen aufgestellt, für eine kleine Stadt wie das damalige Thun eine respektable Zahl. Die von der Technischen Kommission ausgewählten Standorte waren natürlich Strassen und Plätze mit viel Verkehrsaufkommen: das Ober- und das Unterbälliz, der Rathausplatz, Hofstetten, Brücken (unter anderen die Sinne- und die Scherzligbrücke) und Strassenverzweigungen (beispielsweise Länggasse und Frutigenstrasse). Die letzte mit Gas betriebene Strassenlampe wurde allerdings erst 1940 ersetzt.

Kontroversen gab es über die Brenndauer während der Nacht. Ein Kompromiss wurde gefunden, indem man die Bogenlampen im Sommer um 24 Uhr und im Winter um 23 Uhr abschaltete. Die Bogenlampen waren allerdings störungsanfällig und mussten immer wieder repariert werden. Namentlich war auch das Nachstellen der Kohlenstücke recht aufwändig, weshalb die Stadt Thun bereits in den 1920er-Jahren die Bogenlampen sukzessive durch Strassenlaternen mit Glühbirnen ersetzte.1896 installierte auch die «AG Hôtels Thunerhof und Bellevue» auf ihrem Areal 15 Bogenlampen, wollte sie doch mit den zahlreichen technischen Neuheiten der damaligen Zeit Schritt halten. Den Strom für die Kandelaber bezog die AG vom städtischen Elektrizitätswerk. Es ist erfreulich, dass zwei Bogenlampen auf dem Areal des ehemaligen Hotels Bellevue erhalten geblieben sind. Sie wurden schön restauriert. Allerdings werden sie nicht mehr mit dem System des Kohlenbogens betrieben, sondern mit heute üblichen Beleuchtungsmitteln.
Jon Keller, Thuner Stadtgeschichte 1798-2018, Weberverlag.ch

Um 1900 steht auf dem Rathausplatz der elegant gebogene Kandelaber mit der elektrisch betriebenen Kohlenbogenlampe. Gleich daneben, auf dem Brunnen, befindet sich noch die alte Gaslaterne, die viel kleiner und unscheinbarer ist.

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Undatierte Postkarte, Ausschnitt.


M+F, K+W, Selve

Die Arbeitswoche dauerte bei der Konstruktionswerkstätte und der Munitionsfabrik 1878/79 von Montag bis Samstag, pro Tag wurden jeweils zehn Stunden gearbeitet. Eine deutliche Reduktion gab es erst 1918, als der Bund der im Landesstreik erhobenen Forderung nach einer 48-Stunden-Woche zustimmte. Ab den 1920er-Jahren war der Samstagnachmittag arbeitsfrei.

1878 gab es ein Esslokal, wo sich die Hälfte der Arbeiter am Mittag verpflegte. Eineinhalb Liter Suppe mit Spatz kosteten 25 Rappen, ein Liter Kaffee mit Milch 15 Rappen. Dies bei einem Tageslohn von 1 Franken für Anfänger, 1.50 für Arbeiter sowie bis 5.50 Franken für die Meister. 1907-1909 errichteten die Bundesbetriebe an der Uttigenstrasse die Aarestube, eine Speiseanstalt, in der sich in vier Speisesälen bis zu 800 Mitarbeiter verpflegten.

1894 richtete die Munitionsfabrik 25 «Brausebäder» ein, wo die Arbeiter einmal pro Woche duschen konnten. Dies kostete inklusive Seife und Badetuchbenutzung zehn Rappen. Die meisten Wohnungen der Arbeiterfamilien hatten bis ins 20. Jahrhundert hinein kein Badezimmer, weshalb Badeanlagen und Duschen am Arbeitsort für die Körperhygiene wichtig waren.

Die Munitionsfabrik und die Konstruktionswerkstätte verfügten bereits seit 1865 über eine Betriebskrankenkasse, was vergleichsweise fortschrittlich war; die Selve richtete erst 1918 eine Kasse ein.

Christian Lüthi

Banken

Anfang des 19. Jahrhunderts setzte in der ganzen Schweiz eine Welle von Sparkassengründungen ein. 1826 riefen 126 Männer die Amtsersparniskasse Thun als Genossenschaft ins Leben, die heutige AEK Bank. Die Initianten wollten Arbeitern, Dienstbotinnen und Kindern die Möglichkeit bieten, ihr Bargeld ab fünf Rappen sicher anzulegen, um im hohen Alter oder in Notlagen von den Ersparnissen zu zehren. Die Spareinlagen waren auf maximal 1600 Franken beschränkt, damit vor allem Leute aus der Unter- und Mittelschicht davon profitieren konnten. Dank vorsichtiger Geldausleihe und sorgfältiger Geschäftsführung etablierte sich die Bank erfolgreich in der Region. 1908 verwaltete sie knapp 15 Millionen Franken Kundengelder und gehörte damit zu den zehn grössten Banken im Kanton Bern. 

Mit dem Eisenbahnbau und dem Einsetzen der Industrialisierung entstanden in Thun weitere Banken. 1862 eröffnete die Berner Kantonalbank eine Filiale in der Stadt, um das Berner Oberland mit Finanzdienstleistungen und Krediten zu bedienen. 1866 lösten sich die fünf Thuner Zünfte auf und gründeten die Spar- und Leihkasse Thun, um Handwerk und Gewerbe im Amt Thun zu fördern. Seit 1863 existierte zudem die Spar- und Leihkasse Steffisburg, die um 1910 in Thun eine Filiale eröffnete. 

Dampfschifffahrt auf dem Thuner- und Brienzersee

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DS Oberland 1870 - 1932

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DS Jungfrau 1898 - 1929

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DS Blümlisalp 1906 - heute



Mutige Pioniere revolutionieren die Oberländer Wasserwege. Geschichte und Highlights rund um 175 Jahre Schifffahrt auf dem Thunersee. Es ist noch gar nicht so lange her: Noch vor gut 200 Jahren gab es keine durchgehende Strasse ins Berner Oberland. In Richtung Berge ging damals nur, wer entweder dort lebte oder Vieh, Waren oder die Post dorthin transportieren musste. – Und dies war ausschliesslich auf dem Wasserweg möglich. Die Schifffahrt war das Bindeglied zur restlichen Welt. Schliesslich gab es Zeiten, in denen die Berge den Menschen Angst einflössten. Diese Einstellung änderte erstmals das Gedicht «Die Alpen» des Berner Gelehrten Albrecht von Haller. Es zog eine erste Reisewelle von Gebildeten ins Berner Oberland. Auch J.J. Rousseau plädierte kurze Zeit später in einem seiner Romane für das einfache, gefühlvolle und glückliche Leben der Hirten und Älpler, das dem Pariser Hofleben Ludwigs XVI. mit seinen Intrigen, seiner Prunksucht, Verschwendung und Künstlichkeit entgegenstand. Für den Vieh- oder Warentransport gab es zu Beginn des 19. Jahrhunderts 15 «Böcke» -Lastschiffe, die bis zu 30 Tonnen Fracht aufnehmen konnten. Die Postschiffe waren kleiner und dienten auch der Personenbeförderung. Wer es sich leisten konnte, mietete in Thun ein kleines Ruderschiff mit Besatzung. Bis Neuhaus bei Interlaken brauchten diese bei guten Wetterverhältnissen kaum länger als vier, fünf Stunden. Mit diesen Ruderschiffen verdienten sich, bis zur Einführung der Dampfschifffahrt, 130 Schiffer ihr Brot.

Trotz des Wasserwegs lebten die Oberländer bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts in bescheidenen Verhältnissen, schliesslich fehlte jeglicher Fremdenverkehr (ausser eben den Bildungsreisenden). Um mehr Touristen in die Berge zu locken, organisierten sie ab 1805 die ersten Unspunnenfeste; Volksfeste, welche die Bräuche der Bergbevölkerung zeigten. Inzwischen verkehrten auf dem Rhein die ersten Dampfschiffe. Und auch ins Oberland gestaltete sich die Anreise ab 1830 plötzlich viel einfacher und angenehmer als zuvor. Was war der Grund? An Stelle holpriger Wege traten bald ausgebaute Strassen. Es musste entschieden werden, welchem Seeufer entlang Interlaken an Thun angebunden werden sollte.

Die Wahl fiel auf eine Trassierung des linken Seeufers über Spiez. Diese Strecke war zwar länger, die Strasse jedoch einfacher und günstiger zu erstellen. Den Meilenstein für den Tourismus jedoch – und somit für weniger Armut und schlussendlich Wohlstand für das Berner Oberland – legten die Gebrüder Knechtenhofer: Den drei Thun-Burgern Johann Jakob, Johannes und Johann Friedrich Knechtenhofer, die in Hofstetten die Pension «Bellevue» führten – ein Hotel, das zu den besten Häusern der Schweiz zählte –, gefiel diese Entwicklung gar nicht. Sie befürchteten, dass ihre Residenz durch die neue Strasse vom Verkehrsstrom abgeschnitten würde. Um dies zu vermeiden, bestellten die Gebrüder einen eisernen Raddampfer bei der Werft Cavé in Paris. Dieser sollte die Reisenden bequemer ins Oberland bringen als die Fuhrwerke auf der Strasse – und: Er würde seine Fahrt vor ihrem Haus beginnen!

Gesagt, getan: Mit Pferdefuhrwerken liessen die Gebrüder die Teile des neuen Dampfschiffs ins Oberland befördern. Die Jungfernfahrt des Dampfschiffs Bellevue fand am 31. Juli 1835 statt. Von Thun-Hofstetten nach Neuhaus bei Interlaken. Viele Jahre lang verkehrte pro Tag, von Mai bis Oktober, ein Kurs nach Neuhaus und zurück. Um halb neun morgens gings in Richtung Interlaken, am Nachmittag um drei fuhr das Bellevue zurück nach Thun. Was aber war die Folge dieser Pioniertat? Das Berner Oberland erlebte einen enormen touristischen Aufschwung (die Eisenbahn folgte erst Mitte des 19. Jahrhunderts). Interlaken verdrängte Thun und galt von nun an als Lieblingsdestination der neuen Reisenden. Hotels schossen wie Blumen aus dem «Bödeli»-Boden, dem Landstreifen zwischen Thuner- und Brienzersee. Das Kutscherwesen begann zu blühen, die Kleinmeisterkunst erwachte, Fremdenführer traten ihr Amt an, neue Anlegestellen kamen hinzu. Kurz und gut: Durch die Platzierung dieses Knechtenhoferschen Meilensteins war im Berner Oberland der wirtschaftliche Frühling eingekehrt.

Vorerst jedoch konnten sich darüber nicht alle freuen. Durch die Dampfschifffahrt verloren die meisten Schiffer ihre Arbeit. Ihre Familien gerieten ins Elend. Auch einigen Nostalgikern schienen die «dampfspeienden Drachen» nicht zu behagen. So schrieb zum Beispiel der Elsässer Peter Ober, der in Interlaken ein Hotel führte, in sein Reise- handbuch: «Unsere Schiffe mit rot-weissen Dächern, unsere unbedarften Schiffer und unsere hübschen Schifferinnen müssen unsere schönen Seen diesen schrecklichen Dampfschiffen überlassen. Ein Dampfschiff auf einem Schweizer See ist eine Anomalie, wie es sie noch nie gab.» Fern jeglicher Wertung Einzelner obsiegte schlussendlich der Fortschritt.

Ein damals mit Holz betriebenes Dampfschiff konnte auf einmal 200 Personen fassen und durchfuhr den Thunersee in einer guten Stunde. Kein Wunder, dass dem Bellevue – sein erster Kapitän war Oberstleutnant Johann Knechtenhofer höchstpersönlich – bald andere Dampfschiffe folgten. Wer ihnen ungut gesonnen war, stellte das starke Schwanken der ersten Dampfer in den Vordergrund. Eine Dame äusserte sich gar schriftlich zu den Schiffen. Sie schrieb, «dass diese dermassen Funken sprühen, dass der Schirm der Gattin des Ministers Feuer fing». Bald gewöhnten sich auch die Gegner an das, was sie zuvor bedrohte. Das Bellevue wurde gegen das Dampfschiff Helvetia ausgetauscht, die Anzahl Kurse wurde erhöht und bald folgten zwei weitere Raddampfer, die bereits über 350 Personen fassen konnten. So ging es weiter. Jahre und Jahrzehnte gingen ins Land. Der Fortschritt verdrängte die Dampfschiffe genauso wie diese zuvor die Ruderschiffe. Nostalgiker zogen erneut gegen ihn ins Feld – und unterlagen. Denn bereits kurz nachdem die grosse wirkliche Schlacht (1. Weltkrieg) geschlagen war, verdrängten die ersten Diesel-Motorschiffe – bereits ab 1919 – ihre inzwischen mit Kohle betriebenen Vorgänger.

Jubiläumszeitung 175 Jahre Schiffahrt Thunersee 2010