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Ein Theaterstück entsteht

Der Colonialwaarenhändler Streit in Thun, um 1880

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Arme Arbeiterfamilie um 1880

Vom Schreiben eines Theaterstücks

Es ist wesentlich zu unterscheiden, ob das Stück für einen bestimmten Anlass (Auftragsstück) oder aus einem eigenen Ansporn heraus geschrieben wird. Meist werden dem Autor oder der Autorin im ersten Fall bestimmte Auflagen gemacht, bestimmte Vorstellungen der Organisatoren des Anlasses müssen miteinbezogen werden. Schreibt der Autor aus eigenem Ansporn, sind ihm keine Grenzen gesetzt. Grosse Unterschiede in der Aufgabe stellen sich, in- dem man bewusst ein Bühnenstück oder ein Freilichtspiel schreibt. Bei einem Stück, das ein Autor aus eigenem Ansporn schreibt, kann es sein, dass er sich dieser Entscheidung entzieht und das Stück zu seiner Verwirklichung dem Regisseur überlässt, sei es auf der Bühne oder im Freien. Theaterstücke sollten nur im Freien gespielt werden, wenn sie zumindest mehrheitlich auch im Freien spielen. Wird das Stück aus eigenem Ansporn geschrieben, stellt sich immer wieder die Frage: Nehme ich einen bekannten epischen oder dramatischen Stoff oder schreibe ich alles von A bis Z unabhängig irgendwelcher Vorlagen. 

Dieser letzte Vorsatz ist eigentlich schwierig zu verwirklichen, zumindest was die Quellen anbelangt. Kaum ein Theaterstück hat seinen Ursprung nur im Kopf des Autors. Sehr oft haben historische Geschehnisse, politische Begebenheiten oder auch nur ein Zeitungsartikel, eine Kurzgeschichte, ein Gespräch oder ein Gedicht zu einem Theaterstück geführt. Ein paar Beispiele: Zuckmayers «Der Rattenfänger» basiert auf der Sage um den Rattenfänger von Hameln, Rossinis «Il Barbiere di Siviglia» liegt ein Roman von P.-A. de Beaumarchais zugrunde, mit dessen Geschichte auch Mozart ein berühmtes Werk geschaffen hat: «Die Hochzeit des Figaro». Auch der bekannte Ödon von Horvat befasste sich mit dem Stoff und schrieb das Lustspiel «Figaro lässt sich scheiden». Die berühmten «Cats» wurden initiiert von T.S. Eliotts Katzengedichten aus «Old possum' book of practical cats».

Bearbeitungen von bestehenden Stücken werden sehr oft gemacht, laufen aber meistens noch unter dem Titel des Ursprungsautors (Beispiel: Christof Marthalers «Faust 1 + 2» am Schauspielhaus Hamburg), haben aber wie im zitierten Beispiel oft nur Bruchstücke des Textes oder Szenenansätze mit seinem Ursprungswerk gemein. Ein Kapitel für sich sind die meist unbekannten Stücke oft fremdsprachiger und unbekannter Autoren. Sie werden von bekannten Autoren ein bisschen umgeschrieben, den Personen gibt man andere Namen und verkauft sie als sein eigenes Werk. Meist merken es auch die Insider und Verlage nicht, dass dies regelrechte Plagiate sind. Wenn es als solches entlarvt wird, ist meistens der Zufall Schuld. Ein anderer Fall sind die Stücke, die nach bestehenden Prosawerken geschaffen werden. Auch die Prosaliteratur ist für 70 Jahre geschützt. Mit noch lebenden Autoren verhandelt man am besten direkt, lässt sich die Rechte zur Dramatisierung eines Romans geben und holt nach der «Geburt» des Stücks  auch gleich noch den Autor als Götti. 

Grundsätzlich gilt: Wie ein Autor an die Aufgabe herantritt, ist absolut subjektiv. Ich kann also nur für mich sprechen und aufzeigen, wie ich das Vorhaben «Theaterstück schreiben» angehe. Ich nehme folgenden Fall an: Mich interessiert es, ein Freilichtspiel zu schreiben. Keine Auflagen eines Veranstalters engen mich ein. Ich muss damit rechnen, das es nie aufgeführt wird. Es soll im Sommer mit Laien aufgeführt werden, mit den Proben wird ungefähr 7 Monate vorher begonnen, also muss das Stück bis zu diesem Zeitpunkt in einer möglichen Spielfassung vorliegen. Der Stückrahmen muss aber bereits 18 Monate vor der Premiere bekannt sein, damit sich die Organisation in ihrer Planung auf wesentliche Punkte stützen kann: Ist der Spielort bekannt, ist er stationär, zieht man im Verlaufe der Vorstellung umher, wie viele Zuschauer verträgt das Konzept, welches «Rahmenprogramm» erfordert das Stück oder verbietet es, usw. Bereits 18 Monate im Voraus muss sich ein Veranstalter im Klaren sein, ob er zu einem Stückkonzept ja sagen kann, und muss bei einem eventuellen Versagen des Autors noch eine Ausweichmöglichkeit mit einem bestehenden Stück in der Hinterhand haben. 

All diese hier bereits geschriebenen Zeilen sind in meinem Hirn schon lange herumgeschwirrt, bevor ich auch nur ein Wort niederschreibe. Nun konzentriere ich meine Überlegungen auf das mich faszinierende Thema, setze mir ein Ziel oder frage mich: Was will ich eigentlich aussagen - notiere mir ein Handlungsgerüst, den Plot: Welche Stationen durchläuft mein Stück - gibt es einen oder mehrere Handlungsstränge, rote Fäden - welche Personen sollen spielen, wie stehen sie zueinander, wo und wie werden die Personen eingesetzt - wie sehen die Spielorte, Szenenbilder aus. Vor dem inneren Auge ist das Stück bereits jetzt in einer ersten Fassung fertig, nur die Wörter sind noch nicht verteilt. Zu diesem Zeitpunkt ist es nun einmal möglich, einen kurzen Halt im "Gedankenzug" zu machen und ein, zwei A4-Seiten zu Papier zu bringen, damit an eine interessierte Öffentlichkeit zu treten. 

Mein Theaterstück ist eine Kopfgeburt, das heisst bei mir: Es muss zuerst im Kopf geboren werden und wachsen und reifen, bevor es dann auch noch das Licht der Welt erblickt und es alle sehen können. Schon beim Wachsen und Reifen kann es gut sein, dass es plötzlich seine Form verändert, sein Aussehen wandelt, seine Zusammensetzung umpolt. Von diesem Gedankenhaufen, von diesem Durcheinander muss ich mich hie und da befreien, indem man einiges zu Papier bringt, Ideen niederschreibt (noch keine Monologe oder Dialoge, höchstens Bruchstücke davon), damit wieder neue Platz haben. Zwischendurch bedarf es der Ruhepausen, gärt das Stück ganz still vor sich hin oder es wird über Tage oder Wochen in den Winterschlaf gelegt. Ist die Zeit gekommen und das Stück reif, dann setze ich mich hin und lege meinen Figuren Worte in den Mund, lasse sie lebendig werden, immer in der Hoffnung, sie seien keine Missgeburten und das Stück keine Totgeburt. - Und das braucht alles seine Zeit.

Ueli Bichsel, Autor und Regisseur

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